Minenkrieg im Ersten Weltkrieg: Sprengstoffeinsatz bei Messines (2024)

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Es war seltsam still am 7. Juni 1917, eine halbe Stunde vor der heftigsten Explosion des Weltkrieges. Der Vollmond schien und plötzlich sangen nahe dem belgischen Dörfchen Messines sogar die Nachtigallen, berichteten Zeitzeugen später. Das allein erscheint wie ein Wunder, denn seit Jahren hatten Deutsche und Briten hier, an der flandrischen Front bei Ypern, erbittert um jeden Quadratmeter gekämpft. In der Umgebung der alten Handelsstadt waren wie in Verdun Hunderttausende in einem erstarrten Stellungskrieg gefallen. Doch jetzt, als die Waffen kurz schwiegen, sangen die Vögel, als sei Messines der friedlichste Ort auf Erden.

Die Deutschen machte die unnatürliche Stille nervös. Sie verschossen Leuchtraketen zur Aufklärung. Sie ahnten, dass sich da etwas zusammenbraute. Nur was?

Um Punkt 3 Uhr 10 gaben elf britische Offiziere die Antwort. In ihren Schutzbunkern befahlen sie zeitgleich die Zündung von 19 gewaltigen Minen mit insgesamt etwa 420 Tonnen Ammonal-Sprengstoff. Die Erde erzitterte, als die Frontlinie von Messines plötzlich einer Kette von Vulkanen glich: tonnenweise Steine und Erdklumpen flogen in den belgischen Nachthimmel.

In Lille, 20 Kilometer nördlich, riss die Explosion den französischen Geologieprofessor Charles Barrois aus dem Schlaf. Barrois berichtete später, er habe sofort an ein Erdbeben gedacht und sich aus Angst vor Nachbeben hastig angekleidet. Auf den Straßen Lilles beobachtete er deutsche Soldaten, die in Panik umherrannten. Selbst im fernen London soll die Detonation noch zu spüren gewesen sein. Historiker wie der Belgier Franky Bostyn sprachen später von "der gewaltigsten Explosion vor Hiroshima".

Sie war das Ergebnis des Minenkrieges, einer heimtückischen, heute etwas vergessenen Taktik des Ersten Weltkrieges, und die Explosion vom 7. Juni war kein Einzelfall: Rücksichtslos gegenüber den eigenen Männern trieben alle Kriegsparteien so schnell wie möglich kilometerlange, meist schlecht gesicherte Stollen in die Nähe der feindlichen Linien, um den Gegner von dort aus in die Luft sprengen zu können. Mitunter kamen sich die gegnerischen Mineure dabei so nahe, dass sie die Grabungsaktivität des Feindes erlauschen konnten. Sofort entbrannte dann auch ein erbitterter Krieg unter Tage: Mit kleineren Sprengungen und Gegensprengungen sollten die Stollen des Gegners zum Einsturz gebracht und möglichst viele Tunnelarbeiter verschüttet werden.

Es war eine grausame, unheimliche Kriegstaktik, die selbst im hohen Gebirge eingesetzt wurde: Der 2400 Meter hohe Col di Lana in den Dolomiten etwa war monatelang so heftig umkämpft gewesen, dass er den Spitznamen "Blutberg" trug. Oben hatten sich die Österreicher in einem höhlenartigen Unterstand verschanzt. Von unten schoss unermüdlich, aber erfolglos die italienische Artillerie - bis es den Angreifern gelang, mit Meißeln und Handbohrern heimlich einen Tunnel in den Berg zu treiben und die entscheidende Mine zu legen. "Kann es nicht glauben: der Berg spaltete sich!", berichtete ein Augenzeuge am 17. April 1916 fassungslos. "Drei riesige Stichflammen!"

"Der Berg erzitterte, als wolle er in sich selbst zusammenstürzen"

Das Drama, das dann folgte, fasste der österreichische Kommandant Anton von Tschurtschenthaler später emotional in einem Bericht zusammen:

"Die Insassen der Kaverne wurden (…) gleichsam von ihren Sitzen oder Lagern geschleudert. Der Berg erzitterte, als wolle er in sich selbst zusammenstürzen. Alles sprang auf, wollte zum Ausgang - doch umsonst. Felsblöcke und sonstiges Material verlegten den Eingang. Wir waren eingesperrt. Durch das kleine, noch offen gebliebene Loch vernahmen wir das Poltern und Krachen der immer noch kollernden Steine und Schuttmassen, den Höllenlärm des einsetzenden feindlichen Artilleriefeuers sowie Hilferufe grässlich verstümmelter, sogar bis in die Siefschlucht geschleuderter Mannschaften."

Wenig später wurde der Sauerstoff knapp, Panik brach aus. Tschurtschenthaler konnte die Disziplin nur aufrechthalten, indem er drohte, jeden zu erschießen, der nicht gehorchte. Doch bald musste auch der stramme Kommandant einsehen, dass er aufgeben musste. Als er mit seiner verbliebenen Mannschaft aus der Kaverne kroch, erschrak er beim Anblick der weggesprengten Bergkuppe:

"Wo man hinblickte, nur Verwüstung, der ganze Hang war eine Schutthalde. Unsere alten Verteidigungslinien waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt; dort, wo unsere Gräben verliefen (…) war ein tiefer Krater, der in Sekunden etwa 150 Menschenleben verschlungen hatte."

Eine wundersame Rettung

Auf einen Überraschungserfolg mit der Minentaktik hofften auch die Briten wenige Wochen später, am Morgen des 1. Juli 1916, dem ersten Tag der Somme-Schlacht: Augenzeugen staunten über die riesige Wolke aus Erdpartikeln, die 1200 Meter in die Höhe stieg, als zwei Minen mit 27 Tonnen Sprengstoff unterirdisch gezündet wurden. Die Explosion riss den größten Krater des Krieges in den Boden - 91 Meter breit und 21 Meter tief - und tötete und verschüttete womöglich Hunderte Deutsche. Die genauen Opferzahlen sind unbekannt.

Doch der Riesenknall hatte auch einen strategischen Nachteil: Die anrollende Großoffensive der Alliierten war wahrlich keine Überraschung mehr, auch weit entfernt liegende Einheiten waren jetzt gewarnt. Am Ende des Tages hatten sich die Briten festgelaufen und fast 60.000 Mann verloren. Dennoch hielten sie an ihrer Idee fest.

Unter der Führung von General John Norton-Griffiths hatten die Engländer seit 1915 verstärkt Minenarbeiter rekrutiert, zu speziellen "tunnelling companies" zusammengefasst und an die Front geschickt, viele nach Messines. Wohl nirgends wurde der Minenkrieg verbissener geführt als hier. Mehr als ein Jahr dauerten die Grabungsarbeiten, immer wieder liefen die bis zu 35 Meter tiefen Tunnel mit Wasser voll. Teilstücke brachen ein und schon gelegte Minen wurden verschüttet. Nur sehr langsam kamen die Mineure voran, schließlich mussten sie auch unter Tage jederzeit mit einer Gegenattacke rechnen: Allein im Juni 1916 zündeten die Deutschen 126 kleinere Sprengsätze, die Briten 101.

Regelmäßig spielten sich dann Dramen ab wie am 10. Juni: Zwölf Tunnelarbeiter wurden eingeschlossen, als die Deutschen einen Stollen zum Einsturz brachten. Der Schaden war so groß, dass die Engländer schon bald die Hoffnung aufgaben, ihre Kameraden lebendig bergen zu können. Nach vier Tagen ließen sie auf einem Friedhof bereits zwölf Gräber ausheben. Nach sechseinhalb Tagen gelangten sie endlich zu den Verschütteten. Wie durch ein Wunder war einer der Arbeiter nicht erstickt, sein Grab blieb offen.

"Gentlemen, wir werden die Geografie verändern!"

Anfang Mai 1917 hatte der Kommandeur der geplanten Großoffensive, Herbert Plumer, den beteiligten Einheiten den endgültigen Termin für die Zündung der Minen mitgeteilt: 7. Juni 1917. Jetzt musste noch schneller, noch rücksichtsloser gegraben werden. Manche Einheiten waren noch weit von ihrem Ziel entfernt. Bis zum Schluss kam es zu Rückschlägen, einige Zündkabel wurden erst Stunden vor der Sprengung verlegt, und zwei Minen schieden aus den Planungen aus, weil sie zu weit vom Zentrum der Attacke lagen.

"Gentlemen, wir werden morgen vielleicht keine Geschichte schreiben, aber sicherlich die Geografie verändern", sagte Plumer seinen Männern einen Tag vor der Zündung. Er behielt recht: Die Alliierten schufen mit einem Schlag eine urzeitlich wirkende Landschaft mit tiefen Trichtern - der größte von ihnen ist heute ein kleiner See.

"Der teuflischste Anblick, den ich je gesehen habe", schrieb ein Kriegsreporter über die Explosion, "die ganze Landschaft erleuchtete in einem roten Licht". Unmittelbar danach schossen die Alliierten aus allen Rohren auf den desorientierten Gegner und rückten vor. Wenige Stunden später hatten sie ein Teilstück der jahrelang so erstarrten Ypern-Front erobert; mehr als 7000 Deutsche gerieten in Gefangenschaft, bis zu 10.000 gelten als vermisst - die meisten dürften Opfer der Minen geworden sein.

Opfer der eigenen Sprengsätze

Trotz des Durchbruchs zeigte sich schnell, dass die Minen kein Wundermittel waren und mitunter die eigenen Männer trafen. "Es war schrecklich, ich war schon so gut wie begraben", schrieb ein britischer Soldat zwei Tage nach der Explosion verstört an seinen Bruder in der Heimat. Mehr Kritik wagte er nicht und fügte lieber beflissen hinzu, er sei nun wohlauf und General Plumer habe sie alle für den "großen Erfolg" gelobt.

Und dennoch: Der Minenkrieg war zu teuer, zu aufwendig und für die eigenen Männer wohl auch zu zermürbend, als dass ihn die Kriegsparteien bis zum Schluss einsetzten. Ab 1917 kam es nach und nach zu einer Art stillschweigender Übereinkunft, auf diese Taktik zu verzichten. Messines war zum letzten großen Knall des Krieges geworden.

Anschließend verschwand das Dörfchen aus den Schlagzeilen. 38 Jahre lang. Bis am 17. Juli 1955 eine Detonation ein paar Bauern aufschreckte: Eine der beiden nicht gezündeten Minen vom 7. Juni 1917 war, womöglich durch einen Blitzschlag, in die Luft geflogen.

Wo genau die andere Mine vergraben liegt, weiß bis heute niemand.

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